Über die leise Superpower der Introvertierten: Ein Interview mit »Sag doch mal was!«-Autorin Carina Thomas

Veröffentlicht am: 3. September 2024
Cover von "Sag doch mal was"

Cover von »Sag doch mal was!«

Hier das Video-Interview zum Blog

»Sag doch mal was!!!« – Diesen Satz hast du bestimmt schon oft gehört. Zack, stehst du im Mittelpunkt der Konversation. Dass dies gerade für die eher introvertierten Menschen unter uns sehr unangenehm sein kann und oftmals mit vielen Selbstzweifeln und Unsicherheiten einhergeht, ist vielen gar nicht bewusst. Basierend auf ihren eigenen Erfahrungen als introvertierte Person bricht Carina Thomas, Autorin des kürzlich bei CalmeMara erschienenen Sach-Comics »Sag doch mal was! Die leise Superpower der Introvertierten«, die gesellschaftlichen Rollenerwartungen und Klischees auf und zeigt: Deine Introvertiertheit ist deine Stärke! Sie ist viel mehr als bloße Schüchternheit. Was Carina auf ihrer Reise hin zu mehr Selbstakzeptanz und Selbstfürsorge gelernt hat und welche Rolle dabei der kleine Parasympathikus spielt, erfährst du in diesem Interview.

Liebe Carina, wie bist du auf die Idee gekommen, das Buch zu schreiben?

Es ist ja so, dass ich schon immer introvertiert war, aber ich wusste das ganz lange nicht und es gab dann immer mal wieder Situationen, in denen ich einfach ich selbst war, in gesellschaftlichen Kontexten, und Leute mich dann vor allen anderen angesprochen haben und gesagt haben: »Carina, warum bist du denn so still? Erzähl doch mal was!« oder »Sag doch mal was!«. Ich habe mich danach immer total hinterfragt, mich geschämt und hilflos gefühlt. Ich habe gedacht: »Naja, vielleicht ist es wirklich nicht so normal, wie ich bin? Warum bin ich überhaupt so still? Und warum sage ich denn nichts?«. Dann habe ich irgendwann herausgefunden, dass es so etwas wie Persönlichkeitstypen gibt, dass Introvertiertheit Teil des Persönlichkeitsspektrums ist und ich introvertiert bin. Das hat mir sehr geholfen und ich wollte mit meinem Buch eigentlich Antworten finden. Ich wollte verstehen, warum einige Menschen lieber zuhören und weniger reden als andere.

Gehört Introversion zu Neurodivergenz? Inwiefern stehen diese beiden Begriffe in Zusammenhang?

Das sind zwei unterschiedliche Dinge. Introversion ist ein Persönlichkeitsmerkmal. Neurodivergenz beschreibt, dass einige Menschen anders denken, oder dass die Gehirne anders arbeiten. Das gibt es zum Beispiel bei ADHS, bei Autismus oder Tourette. Ich denke schon, dass es Überschneidungen geben kann. Es gibt bestimmt autistische Menschen, die introvertiert sind und ich glaube, man kann sich in einigen Teilen verstehen. Wenn ich, als introvertierte Person, zum Beispiel in lauten Räumen schnell überstimuliert bin, dann geht es vielleicht jemandem auf dem Autismus-Spektrum genauso. Aber an sich sind es zwei verschiedene Dinge.

Was ist dein ultimativer Geheimtipp, um den inneren Akku wieder aufzuladen?

Mein Geheimtipp wäre, ein Kuscheltier zu umarmen (lacht). Wir haben zwei Nervensysteme im Körper  und bei Introvertierten ist es so, dass der Parasympathikus für das Wohlbefinden sorgt. Wenn der aktiv ist, geht es uns sozusagen gut. Wenn man hier diesen Bereich aktiviert oder drückt (legt beide Hände auf die Brust) und Wärme ausübt, was ja passiert, wenn man jemanden umarmt, dann wird der Vagusnerv, das ist ein Nerv des Parasympathikus, aktiviert. Das hilft eben, den Blutdruck zu senken und den Herzschlag zu verlangsamen.

Das ist ein toller Geheimtipp! Magst du uns verraten, was dein Lieblingskuscheltier ist, oder bleibt das geheim?

Ja, kann ich verraten (lacht). Ich habe einen Hasen, der heißt Lady Marmelade. Den habe ich in Neuseeland gekauft und er trägt einen Blumen-Overall.

Im Buch wird an einigen Stellen Frida Kahlo erwähnt. Welche Rolle spielt sie in deinem Leben?

Ich habe ein Buch über sie gelesen. Ihre Biografie, aber als Roman geschrieben. Und ich finde sie als Person einfach sehr inspirierend, weil sie immer ihren Weg gegangen ist. Ihr war oft egal, was andere von ihr gedacht haben. Sie hat diese dramatischen Augenbrauen, hat die aber auch gepflegt, damit sie mehr wachsen, obwohl das damals gar nicht dem Schönheitsideal entsprach.

 

Innenseitendarstellung: Extraversion und Introversion

Du hast eben den Parasympathikus erwähnt. In deinem Buch hast du ihn als kleines eigenständiges Wesen illustriert, verlagsintern ist er bei uns als die »kleine Bohne« bekannt. Wie bist du auf die Idee gekommen, ihn auf diese Weise darzustellen?

Ich mag das total, dass ihr ihn »kleine Bohne« nennt, ich finde das sehr sympathisch und das passt auch gut. Ich habe tatsächlich keinen Namen, aber ich habe als Kind viele Petzi Bücher gelesen, Bilderbücher über Petzi, den Bären. Die waren noch von meiner Mama. Das sind Bildergeschichten und da gibt es eine kleine Schildkröte und einen kleinen Papageien, die haben in vielen Panels eine kleine eigene Geschichte. Die wird aber nicht weiter erläutert, sondern sie passiert einfach visuell. Die beiden machen immer irgendwelche Späße.  Das fand ich immer faszinierend und ich habe sowieso ein Faible für kleine, niedliche Wesen und Dinge. Daher wollte ich so etwas auch in mein Buch einbauen. Ich finde es hilft auch, sich vorzustellen, dass introvertierte Menschen jemanden, zum Beispiel so ein kleines Wesen, bei sich oder in sich haben, um das man sich kümmern kann. Mir hilft das, netter zu mir zu sein und mich liebevoller zu behandeln.

Du erwähnst den Heureka-Moment in deinem Buch. Gab es den bei dir auch während des Schreibprozesses?

Ja. Was ich vorher nicht wusste, ist, dass es bei Introvertierten tatsächlich körperliche Ursachen gibt. Oder körperliche Mechanismen, die in Gang gesetzt werden. Zum Beispiel ist bei vielen Introvertierten die Amygdala sehr aktiv und man nimmt daher Reize, die von außen kommen, stärker und auch schneller oder intensiver wahr. Diese Erkenntnis hat mir total viel gegeben, denn ich habe früher immer gedacht, ich könnte viel einfach mit Willenskraft erreichen. Ich wollte mich immer so anstrengen, anders zu werden. Aber wenn mein Körper gar nicht anders kann und eben einfach so funktioniert, finde ich das sehr beruhigend. Sozusagen wie eine Erlaubnis dafür, zu sein wie ich bin.

Was war die größte Herausforderung für dich während des Schreibprozesses?

Ich glaube, die größte Herausforderung für mich war auf jeden Fall ehrlich zu sein und mich zu öffnen. Ich habe immer versucht, beim Schreiben und beim Zeichnen nicht zu sehr daran zu denken, wer das nachher alles lesen könnte und wie die Leute das Buch dann bewerten und was sie dazu sagen würden. Das hätte mich wahrscheinlich sehr gehemmt. Aber das war auch schön, weil ich gemerkt habe: Ich muss mich gar nicht mehr so verstecken! Ich habe mit dem Thema ganz viele Türen geöffnet für Gespräche mit Leuten, die mir dann gespiegelt haben, dass es ihnen auch so geht. Das war natürlich eine ganz tolle Erfahrung.

Carina zeichnet den Parasympathikus

Carina zeichnet den Parasympathikus

Die Schule geht bald wieder los, hast du einen School-Survival-Tipp für alle introvertierten Kinder da draußen?

Für mich war die Schulzeit einfach eine harte Zeit. Man musste gleich sein, um dazuzugehören. Da ist es schwierig, wenn man das Gefühl hat, anders zu sein. Als erwachsener Mensch merkt man später, dass es ganz vielen Leuten so geht und dass man seine Nische irgendwann findet. Was aber in der Schule, glaube ich, helfen könnte ist, sich klarzumachen, dass es einfach Menschen gibt, die verschieden große Akkus haben. Und nur, weil jemand mehr Energie am Tag zur Verfügung hat, heißt das nicht, dass ich genauso viel haben muss. Das heißt, dass man sich zurücknehmen kann und es offen kommunizieren kann, indem man sagt: »Mein Akku ist gerade einfach leer, der ist einfach kleiner und ich brauche eine Pause.« Was mir auch hilft, ist, die Dinge immer mit Humor zu nehmen. Also wenn etwas Negatives passiert, es vielleicht zuhause als kleinen Comic zu zeichnen und so ein bisschen die Spitze herauszunehmen, indem man es für sich lustig darstellt.

Was würdest du deinem jüngeren Ich gerne mit auf den Weg geben? Gerade jetzt, nachdem du das Buch geschrieben hast und sehr intensiv das Thema Introvertiertheit reflektieren konntest?

Ich würde meinem jüngeren Ich etwas sagen, was meine Betreuerin mir auf einer Freizeit gesagt hat. Ich war etwa 12 Jahre alt und nicht so glücklich dort. Sie hat mich irgendwann gefragt, was los ist. Ich habe gesagt, ich könne mit den anderen Kindern nicht so gut sprechen und ich hätte nichts zu sagen. Sie hat mich gefragt, ob ich denn Tagebuch schreiben würde, da habe ich genickt. Daraufhin meinte sie: »Ja, aber dann hast du doch was zu sagen!« Das war für mich so ein schöner Moment , weil ich gemerkt habe, dass man nicht laut sein muss, um etwas mitzuteilen. Wir haben alle was zu sagen und das kann sich darin zeigen, wie wir tanzen, wie wir Musik hören, wie wir die Haare frisieren – das finde ich einfach schön, weil niemand die Welt so sieht wie du oder wie ich. Das ist einfach einzigartig und allein dadurch haben wir alle was zu sagen.

Wie fühlt es sich für dich an, zu wissen, dass dein Buch inzwischen veröffentlicht ist?

Ganz verrückt (strahlt über das ganze Gesicht und lacht)!